Altern (20)

Das Alt-Werden ist heute eine eigenständige Lebens- und Entwicklungsphase, es gilt diese als sinnvolle Möglichkeit zu begreifen und anzunehmen. Menschen, die 60 Jahre sind, haben die Chance noch 30 Jahren und mehr, mit steigender Tendenz, zu leben. Das Altern wird zur längsten Lebensphase des Menschen. Diese vielen Jahre gilt es gut zu füllen, auch wenn körperliche oder psychische Beeinträchtigungen die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben erschweren können.

Wir wissen, wie in jungen Jahren die psychische Entwicklung verläuft, aber das Alter ist bisher noch nicht deutlich genug als eigenständige Entwicklungsphase verstanden worden. Für einige wird Altern und Entwicklung nicht „zusammen gebracht“. Es scheint ein Widerspruch zu sein. Natürlicher Weise beginnt das Altern eines Menschen mit oder sogar vor der Geburt, im Beginn ist das Ende angelegt. 

Die Entwicklungsziele im Alter sind individuell bestimmt und dienen der Persönlichkeitsreifung und -entfaltung. Lebenslanges Lernen ist gefragt! Die Frage, was wollte ich immer schon einmal tun, kann neue Horizonte im eigenen Denken eröffnen. Vielleicht gibt es etwas, was im bisherigen Alltag nicht gelebt werden konnte, und was jetzt verwirklich werden kann. Der Schriftsteller Bert Brecht beschreibt in der Geschichte von der unwürdigen Greisin, wie eine Frau nach dem Tod ihres Mannes ein gänzlich anderes Leben führt. Völlig unverständlich für ihre Kinder, dass sie Geld für sich ausgibt, sich mit für die Kinder zwielichtigen Menschen einlässt, schlicht das Leben ohne Schranken genießt. Sie ging in einem Gasthaus essen: „Großmutter, die zeit ihres Lebens für ein Dutzend Menschen gekocht und immer nur die Reste aufgegessen hatte, aß jetzt im Gasthof! Was war in sie gefahren?“ fragten sich die Kinder und die Enkel völlig überrumpelt durch dieses Verhalten. Sie, die Jungen, waren „im Kopf“ älter als die Alte. Ein neues und anderes Leben hat sie in den wenig ihr noch verbleibenden Jahren gelebt. „Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen.“


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